Lebesjatnikow vs. Rasumichin

An allen Ecken stehen die Lebesjatnikows und die Rasumichins und streiten miteinander, und ihre Positionen bringen sie dann in etwa so vor:

L.: „Von Hohn ist nicht die Rede, sondern von einem Proteste gegen diesen Brauch. Ich habe dabei ein nützliches Ziel im Auge. Ich kann dadurch indirekt die Entwicklung der Menschheit und die Propaganda fördern. Jeder Mensch hat die Pflicht, die geistige Entwicklung seiner Mitmenschen zu fördern und Propaganda zu treiben, und je energischer er es tut, um so besser ist es. Ich kann eine Idee wie ein Samenkorn hinstreuen … […] Da sehen Sie einmal, wie es Frau Warenz machte! Sieben Jahre lang hatte sie mit ihrem Manne zusammen gelebt; da verließ sie ihn und ihre zwei Kinder und schrieb ihrem Manne in einem Briefe eine energische Absage: ‚Ich bin zu der Einsicht gelangt, daß ich mit Ihnen nicht glücklich sein kann. Ich werde es Ihnen nie verzeihen, daß Sie mich betrogen haben, indem Sie mir verheimlicht haben, daß es dank den Kommunen noch eine andre Gesellschaftsordnung gibt. Ich habe das alles vor kurzem von einem hochgesinnten Manne erfahren, dem ich mich auch zu eigen gegeben habe, und mit ihm zusammen will ich eine Kommune gründen.‘ […] In diesem Stil müssen derartige Briefe geschrieben werden. Nun, was ist denn dabei? Nach meiner Ansicht, das heißt nach meiner persönlichen Überzeugung, ist das für eine Frau der eigentlich normale Zustand. Warum auch nicht? Das heißt: distinguons! In der jetzigen Gesellschaftsordnung ist dieser Zustand selbsverständlich nicht normal, weil er durch eine Notlage herbeigeführt wird; aber in der künftigen Gesellschaftsordnung wird er völlig normal sein, weil er da ein freiwilliger ist. Und auch unter jetzigen Verhältnissen hatte dieses Mädchen ein Recht, so zu handeln, wie sie gehandelt hat: sie litt Not, und ihr Körper war ihr Fonds, sozusagen ihr Anlagekapital, über das sie vollständig berechtigt war zu verfügen. Natürlich, in der künftigen Gesellschaftsordnung werden keine Fonds nötig sein; sondern die Stellung der Frau wird anderweitig festgesetzt und in harmonischer, vernunftgemäßer Weise geregelt sein. Was Sofja Semjonowna persönlich anbelangt, so betrachte ich unter den gegenwärtigen Umständen ihre Handlungsweise als einen energischen, zur Tat gewordenen Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung und empfinde vor ihr große Hochachtung deswegen; ich freue mich sogar jedesmal, wenn ich sie sehe!“

R.: „Ich will dir Bücher zeigen, die sie darüber geschrieben haben; immer heißt es bei ihnen: ‚die Gesellschaft ist daran schuld‘, weiter nichts. Das ist ihr beliebtes Schlagwort! Daraus folgt dann ohne weiteres, daß, wenn es gelingt, die Gesellschaft normal einzurichten, mit dem Wegfall jedes Anlasses zu einem Proteste sofort auch alle Verbrechen verschwinden und alle Menschen im Nu gerecht werden. Aber die Natur wird von ihnen nicht in Betracht gezogen; die wird in diesen Erwägungen ignoriert, die wird nicht als Faktor in die Rechnung eingesetzt. Nach ihrer Ansicht verhält es sich nicht so, daß die Menschheit auf historischem, organischem Wege sich weiterentwickelt und schließlich zum Normalzustande gelangt, sondern ein soziales System, das Produkt eines mathematischen Kopfes, wird die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie im Nu gerecht und sündlos machen, schneller als jeder organische Prozeß, ohne jede historische und organische Entwicklung! Daher haben sie auch eine solche instinktive Abneigung gegen die Geschichte; ‚die Geschichte‘, sagen sie, ‚ist ein Gemenge von Schändlichkeiten und Dummheiten‘, und erklären alles nur aus der Dummheit. Darum haben sie auch eine solche Abneigung gegen den organischen Lebensprozeß: eine lebendige Seele brauchen sie nicht! Eine lebendige Seele verlangt zu leben; eine lebendige Seele fügt sich nicht in einen Mechanismus; eine lebendige Seele ist mißtrauisch; eine lebendige Seele opponiert! Aber den Menschen, der in ihr System paßt, den kann man aus Kautschuk machen; und wenn er auch einen Kadavergeruch hat – dafür ist er auch nicht lebendig, dafür ist er auch willenlos, dafür ist er auch sklavisch und rebelliert nicht. Kurz, sie denken an nichts als an die Aufführung der Mauern und die Anordnung der Korridore und Zimmer in ihrer großen Phalanstère. Die Phalanstère ist fertig; aber die menschliche Natur dafür passend zu machen, damit sind sie noch nicht fertig. Die menschliche Natur will leben; sie hat ihren organischen Entwicklungsprozeß noch nicht abgeschlossen; sie auf den Kirchhof zu bringen, damit ist es noch zu früh! Mit der kahlen Logik kann man sich über die Natur nicht hinwegsetzen! Die Logik sieht vielleicht drei mögliche Arten voraus, wo es ihrer eine Million gibt! Diese ganze Million beiseite zu schieben lediglich mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit beim Aufbau des Systems, das ist allerdings die leichteste Lösung der Aufgabe. Das ist von einer verführerischen Überheblichkeit, und das Denken spart man dabei ganz. Und das ist die Hauptsache: man spart dabei das Denken! Das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens läßt sich dann auf zwei Druckseiten abtun!“

Meinetwegen sind sie beide nicht gerade am verständigsten, nur Lebesjatnikow aber verlangt eine ganz besondere Dummheit (oder intellektuelle Bereitschaft zur begriffsverpesteten Schlauheit), um ihm zu glauben, und Dostojewskij wird schon seinen Grund gehabt haben, nur ihn explizit auch so zu bezeichnen. Wie dumm und hinterhältig unser Diskurs seit 1866 doch geworden ist, damals war er einfältig und ehrlich.

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